Bruxismus, Stress und das autonome Nervensystem: Gastbeitrag von Dr. Sabine Nunius

You are currently viewing Bruxismus, Stress und das autonome Nervensystem: Gastbeitrag von Dr. Sabine Nunius

Dr. Sabine Nunius beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem autonomen Nervensystem, sowohl praktisch als Personal Trainerin, Trauma-Yogatherapeutin und Heilpraktikerin für Psychotherapie, als auch theoretisch in der Medizin- und Gesundheitskommunikation. Manche von euch kennen sie vielleicht aus unserem Podcastgespräch über das autonome Nervensystem. Aufgrund ihrer Arbeitsschwerpunkte war Sabine nicht nur die perfekte Ergänzung für unser gemeinsames neues Buch Dauernervosität überwinden: 5 praxiserprobte Bausteine gegen innere Unruhe. Spannungszustände und nervöse Tics. Mit dem Vagusnerv in die Balance, sondern hat sich auch zu einem Gastbeitrag hier auf dem Blog bereiterklärt. Dafür herzlichen Dank an Sabine und euch gute Erkenntnisse hier in ihrem Artikel zum autonomen Nervensystem und seiner Rolle bei Bruxismus!

Artikelgliederung

Transparenzhinweise und rechtliche Absicherung

Bruxismus, Stress und unser autonomes Nervensystem: Mit Hilfe von Erkenntnissen aus der Neurologie und Psychologie zum inneren Gleichgewicht finden und Belastungssymptome abbauen

Bruxismus ist in der Regel ein sehr komplexes Phänomen. Damit sage ich den regelmäßigen Lesern dieses Blogs  nichts Neues – den direkt Betroffenen noch weniger. Diese Komplexität bedeutet gleichzeitig, dass es meist nicht die eine, sondern vielmehr eine Reihe von Ursachen, Auslösern und aufrechterhaltenden Faktoren gibt. Auch diese Information dürfte wenig überraschend sein. Beim Bruxismus handelt es sich somit um ein Symptombild mit multikausaler Ursache, bei denen zudem individuelle Unterschiede und Besonderheiten auftreten. Dennoch gibt es sozusagen eine Standardliste mit möglichen Ursachen, die in den allermeisten Fällen eine Rolle spielen. So gut wie immer auf der Liste möglicher Teilursachen stehen Stress, Verspannungen und bestehende Fehlstellungen am Kiefergelenk, in der Fachsprache auch als craniomandibuläre Dysfunktion (CMD) bezeichnet.

Was hat dies für ein Therapiekonzept zur Folge? Meist zeigt sich sehr schnell, dass es nicht die eine einzige Maßnahme gibt, die schnell und nachhaltig Linderung verschafft. Denn spielen allein die drei bereits genannten Faktoren, also Stress, Verspannungen und Kieferfehlstellungen, eine Rolle, lässt sich keine singuläre Intervention finden, die effektiv und zielführend alle drei Bereiche gleichzeitig anspricht. Dementsprechend existieren bei Bruxismus keine „quick fixes“, also schnelle Lösungen im Sinne von „ich tue A und bringe damit B zum Verschwinden“. Stattdessen muss auf eine Art Maßnahmen-Cocktail gesetzt werden, bei dem es zunächst gilt, die Ingredienzen individuell zusammenzustellen.

Diese Erkenntnis kann zunächst ernüchternd und wenig zufriedenstellend wirken. Dies ist mehr als verständlich! Denn als Betroffene – egal bei welcher Einschränkung – hoffen wir zunächst immer darauf, eine klar umrissene Maßnahme zu finden, die verlässlich Linderung, idealerweise sogar Heilung verschafft. Wird uns in einer derartigen Situation gesagt, dass wir zuerst eine ganze Reihe von Ansätzen und ihre richtige Zusammensetzung testen sollen, tritt schnell ein Gefühl der Überforderung oder Entmutigung ein. Dies verstärkt sich noch, wenn die Phase des Testens und Experimentierens einige Zeit in Anspruch nimmt. Denn wenn es uns ohnehin schon nicht gut geht, fehlt häufig die Kraft für zusätzliche Anstrengungen und Experimente. Dennoch birgt die Erkenntnis, dass komplexe Probleme vielschichtige Lösungen brauchen, das Potenzial für Hoffnung und neue Perspektiven. Den schnellen und geradlinigen Weg werden diese zwar nicht eröffnen. Doch trägt das Wissen um die komplexen Zusammenhänge dazu bei, mittelfristig den passenden Plan zu finden, der genau die Bausteine beinhaltet, die individuell passend und hilfreich sind. In der Fachsprache werden diese Ansätze als „multimodal“ bezeichnet.

Das autonome Nervensystem als Teil eines multimodalen Ansatzes bei der Behandlung von Bruxismus

In diesem Artikel möchte ich einen Baustein eines solchen Ansatzes vorstellen, dem häufig noch wenig Beachtung geschenkt wird. Es handelt sich dabei um das (autonome) Nervensystem. Warum ist es sinnvoll, das Nervensystem in der Bruxismus-Behandlung zu berücksichtigen? Durch den wissenschaftlichen Fortschritt in den Neurowissenschaften und verwandten Forschungsbereichen haben sich in den letzten Jahren zahlreiche neue Angebote und Therapieformen mit einer Vielzahl von Anwendungsbereichen entwickelt. Diese bieten eine höchst effektive und sinnvolle Ergänzung bei der Therapie zahlreicher Beschwerdebilder. Im Hinblick auf Bruxismus sind vor allem die Möglichkeiten, Zustände des „hyper-arousal“, also der Übererregung, abzubauen und gezielt zu regulieren, besonders relevant. 

Wissenschaftliche Einordnung: Bruxismus und das autonome Nervensystem

Wie belastbar ist diese Annahme? Da es sich um eine vergleichsweise neue wissenschaftliche Erkenntnis handelt, sind noch nicht alle Zusammenhänge und Querverbindungen bis ins letzte Detail erforscht. Dennoch existieren inzwischen belastbare wissenschaftliche Studien, die beispielsweise belegen können, dass ein direkter Zusammenhang zwischen dem autonomen Nervensystem (ANS) und primärem Schlafbruxismus besteht (etwa Tapiainen et.al. 2022 – alle Quellenangaben am Ende des Artikels). Eine der Untersuchungen weist dabei folgendes nach:

„Sympathische (SN) und parasympathische (PSN) Nervenaktivität traten signifikant in 93,3% der Fälle (p < 0,01) auf, wobei sich vorhersehbare Muster während des Schlafbruxismus (SB) zeigten. Zudem lag bei sieben der Probanden (vier Probanden, p > 0,05; drei Probanden p < 0,01) ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Länge des SB und der sympathischen Aktivität vor, sowie bei fünf Probanden ein signifikanter Zusammenhang zwischen parasympathischer Aktivität und SB-Muskelaktivität (% maximale willentliche Anspannung) (vier Probanden, p < 0,05; ein Proband, p < 0,01).“ [Nukazawa et.al. 2017, Übersetzung S.N. – Original siehe am Ende des Artikels bei den Quellenangaben]

Eine weitere Studie legt dar, dass beim primären Bruxismus die bereits erwähnten „arousals“, also Erregungszustände, das autonome Nervensystem aktivieren (Alóe 2009). Dies wiederum führt zu Kaumuskelaktivität und Zähneknirschen – mit anderen Worten zwei wohlbekannten möglichen Ursachen und Einflussfaktoren auf Bruxismus und vergleichbare Beschwerdebilder.

Allein aus diesen Gründen lohnt es sich, unser autonomes Nervensystem (ANS) und seine Aufgaben genauer zu betrachten. Um seine genauen Funktionen zu illustrieren, lade ich dazu ein, zunächst einen Blick auf die Rolle des ANS im gesamten Nervensystem zu werfen.

Das Nervensystem als zentrale Schaltstelle zwischen Gehirn und Körper

Zunächst ist es wichtig sich bewusst zu machen, dass das ANS keine unabhängig agierende Einheit darstellt, sondern ein Unterbereich unseres kompletten Nervensystems ist. Es ist damit Bestandteil eines der zentralen Systeme unseres Körpers, die unser tägliches Überleben sichern. Doch auch über das reine Überleben hinaus ist das Nervensystem von uns von höchster Bedeutung. So nimmt es beispielsweise erheblichen Einfluss auf unser grundsätzliches Wohlbefinden. Zudem ermöglicht unser Nervensystem es uns, unsere Umwelt wahrzunehmen, mit ihr in Kontakt zu treten und Bindungen einzugehen. Ebenso sind gezielte Handlungen und Aktivitäten nur dank unseres Nervensystems möglich, das beispielsweise unsere Skelettmuskulatur steuert und uns damit in die Lage versetzt, uns fortzubewegen, Dinge zu greifen oder komplexe Bewegungen wie ganze (Tanz-)Choreographien auszuführen. 

Fachbegriffe – Fachbegriffe – Fachbegriffe: Ein Weg durch den Terminologie-Dschungel

Tauchen wir weiter in die Welt des Nervensystems und seiner einzelnen Teilbereiche ein, bietet sich uns eine enorme Fülle faszinierender Informationen und Erkenntnisse. Gleichzeitig erwartet uns allerdings eine beachtliche Menge an (Fach-)Begriffen. Die Herausforderung dabei: Die Terminologie ist nicht immer einheitlich. Streckenweise ergeben sich so inhaltliche Überschneidungen und Dopplungen. Dies liegt nicht zuletzt dran, dass sich unser Nervensystem nach unterschiedlichen Gesichtspunkten gliedern und beschreiben lässt. Je nachdem, welche Betrachtungsweise wir wählen, ergeben sich unterschiedliche, mitunter abweichende Bezeichnungen und Unterteilungen. Warum erwähne ich das an dieser Stelle und warum ist das für Leser überhaupt relevant?

Beginnt man, sich unterschiedliche Bücher, Artikel oder Podcasts zum Thema zu besorgen, tritt am Anfang oft Verwirrung ein, weil plötzlich von ganz anderen Teilbereichen die Rede zu sein scheint oder weil die Erkenntnisse aus einem Text plötzlich denen aus einer anderen Quelle zu widersprechen scheinen. Dies hat zwei Ursachen: Zum einen die unvollständige Standardisierung der Terminologie und zum anderen die Tatsache, dass es sich um ein Forschungsgebiet handelt, bei dem viele Annahmen bislang auf Hypothesen beruhen. Das heißt: Die endgültige „Wahrheit“ lässt sich vermutlich in keinem Beitrag finden. Was uns aktuell zur Verfügung steht, sind mehr oder weniger belastbare Annahmen und momentane Forschungsstände. Angesichts des rapiden Fortschritts insbesondere im Bereich der Neurowissenschaften ist zu erwarten, dass uns in den nächsten Jahren noch einige Neuerungen, Korrekturen und Zusätze bevorstehen. Dranbleiben lohnt sich also!

Ein letzter zusätzlicher Faktor im Hinblick auf Literatur zum autonomen Nervensystem, ist die Übersetzungsproblematik. Viele Fachartikel sind auf Englisch verfasst. Der englische Fachbegriff „autonomic nervous system“ hat jedoch nicht nur eine einzige deutsche Entsprechung. So führt dict.cc sowohl „autonomes Nervensystem“ als auch „vegetatives Nervensystem“ als mögliche deutsche Übersetzungen von „autonomic nervous system“ auf.

Was hat dies für eine Konsequenz für die Leserschaft? Ganz einfach: Berufen sich zwei unterschiedliche Forscher auf eine Quelle, kann es vorkommen, dass der eine den englischen Begriff mit „autonomes Nervensystem“, der andere mit „vegetatives Nervensystem“ übersetzt. Formal korrekt wäre beides – für den Leser entsteht dabei allerdings schnell Verwirrung, da ohne den Originalartikel nicht überprüft werden kann, ob im Englischen jeweils ein und derselbe Begriff verwendet wurde.

Gerade wenn wir beginnen, uns intensiver mit der Thematik zu beschäftigen, sollten wir uns dessen bewusst sein, dass in Texten über das autonome Nervensystem im Deutschen eine Reihe von Begriffen synonym verwendet werden. Sie beziehen sich letzten Endes jedoch auf das gleiche System. Das heißt, wir verfügen nicht über ein vegetatives und ein davon getrenntes autonomes Nervensystem, sondern es sind schlichtweg zwei verschiedene Namen für denselben Bereich. 

Mögliche Gliederungen des Nervensystems – ein erster Überblick

Das klingt alles noch sehr abstrakt? Das soll sich mit diesem Absatz ändern. Denn nach der terminologischen Grundlage geht es nun zu den konkreten Teilbereichen unseres Gesamtnervensystems.

Erster Schritt dabei: die Wahl des entsprechenden Blickwinkels. Das heißt, wir müssen uns zunächst die Frage stellen, welche Gliederungskriterien wir unserer Betrachtung zugrunde legen möchten. Es geht also darum, wie wir die einzelnen Funktionsbereiche voneinander abgrenzen.

Topographische Gliederung

Eine erste mögliche Gliederung des Nervensystems besteht in der Einteilung nach topographischen Kriterien, d.h. nach ihrer Lage im Körper. Diese findet sich unter anderem in vielen (Biologie-)Lehrbüchern und dürfte dem ein oder anderen Leser bereits vertraut sein. Diese Gliederung bietet sich zudem an, weil sie eine sehr plastische Vorstellung vermittelt und somit den perfekten Einstieg in die Thematik liefert.

Gehen wir nach der Topographie im menschlichen Körper vor, ergibt sich folgende Unterteilung:

Das ZNS umfasst hierbei das Gehirn (Cerebrum) und das Rückenmark (Medulla spinalis). Es dient als Steuerzentrum zur Informationsverarbeitung. Das periphere Nervensystem beinhaltet dagegen die Bereiche, die außerhalb des Gehirns liegen. Es stellt gewissermaßen die „Verkabelung“ zwischen ZNS und den außerhalb des Gehirns liegenden Organen dar. Diese Organe werden in der Fachsprache als peripher bezeichnet – daher auch der Name „peripheres Nervensystem“. Die beiden Bereiche sind zwar als getrennte Einheiten konzipiert, in der Realität aber eng verbunden und stehen in enger Kommunikation. Die Signalweiterleitung zwischen ZNS und PNS erfolgt dabei über Nervenbündel (Nervi).  

Gliederung nach Funktion

Neben dieser topographischen Einteilung als erstem Anhaltspunkt, existiert noch ein weiterer Ansatz, der für unsere Zwecke besonders zielführend ist. Es handelt sich dabei um die Gliederung nach der Funktion. In diesem Fall unterscheiden wir zwischen folgenden Bereichen:

Vegetatives Nervensystem und viszerales Nervensystem sind Synonyme für das autonome Nervensystem.

Wie unterscheiden sich die beiden Bereiche? Das somatische Nervensystem umfasst in erster Linie die bewusst ablaufenden Vorgänge in unserem Körper, etwa die Wahrnehmung von Sinneseindrücken und willkürlichen Aktionen wie Bewegungen über unsere Skelettmuskulatur.

Warum „in erster Linie“? Das oben Geschriebene ist grundsätzlich durchaus richtig. Allerdings hat die Forschung der letzten Jahre und Jahrzehnte ergeben, dass die Aufteilung in abhängig und unabhängig bzw. somatisch und autonom in dieser vollkommen trennscharfen Abgrenzung nicht haltbar ist. Der Grund dafür: „Das somatische und das vegetative System beeinflussen sich gegenseitig. Außerdem enthalten sowohl das ZNS als auch das PNS jeweils autonome und somatische Anteile“ (DocCheck Flexikon). Gleiches gilt für die Unterteilung in „willentlich beeinflussbar“ und „unwillkürlich“: „Das autonome Nervensystem ist weder komplett unbewusst und unwillkürlich, noch ist das somatische Nervensystem immer willentlich oder bewusst beeinflusst“ (lecturio.de).

Zudem stellt sich die Problematik von Überschneidungen vorrangig im Bereich des ZNS bzw. im Gehirn. In den außerhalb des Gehirns liegenden Bereichen ist die Unterteilung klarer, da hier „das vegetative Nervensystem deutlicher in drei Untereinheiten (Sympathikus und Parasympathikus, enterisches System) gegliedert ist und nicht bzw. kaum mit der somatischen Peripherie interagiert“ (lecturio.de).

Fassen wir noch einmal zusammen: Während das somatische Nervensystem vorrangig bewusst ablaufende Prozesse bedient, steuert das autonome Nervensystem vor allem unbewusste Tätigkeiten und Vorgänge. Dazu zählen v.a. die Tätigkeit von Organen und Organsystemen.

Das autonome Nervensystem: Bremse und Gaspedal zugleich

Besonders spannend wird die Steuerung durch das autonome Nervensystem, wenn wir die beiden grundsätzlich möglichen Effekte betrachten. Denn das autonome Nervensystem kann sowohl bremsend als auch aktivierend wirken. Aufgrund dieser beiden Hauptaufgaben, hat sich eine weitere Unterteilung des autonomen Nervensystems etabliert, nämlich in:

Betrachtet man die neuere Forschungsliteratur, wird in der Regel noch ein dritter Bereich hinzugefügt. So wird die Unterteilung des ANS ergänzt um das

Die Hypothese einer dritten Untereinheit in Form des ENS bzw. der Fokus darauf ist vergleichsweise neu. So haben viele von uns vermutlich bereits schon einmal von Sympathikus und Parasympathikus gehört. Weniger geläufig ist dagegen die Vorstellung eines zusätzlichen, auf den Magenbereich konzentrierten Systems. Diese Ergänzung stellt jedoch einen wichtigen Zusatz dar und gibt darüber hinaus punktgenau einen Hinweis darauf, was unser autonomes Nervensystem noch in unserem Körper bewirkt. Denn treffenderweise wird das enterische Nervensystem im Englischen oft als „second brain“ oder „abdominal brain“ bezeichnet. Diese Bezeichnung spiegelt sich im Deutschen in zahlreichen Redewendungen wie „mir liegt etwas im Magen“ oder „ich habe bei der Sache ein schlechtes Bauchgefühl“ wider. Spätestens an dieser Stelle wird der Zusammenhang zwischen unserem Nervensystem und unserem Fühlen und Erleben mehr als deutlich!

Die beiden Gegenspieler: „böser“ Sympathikus und „guter“ Parasympathikus?

Was bringt uns diese Erkenntnis für unseren Alltag? Wie eingangs erwähnt, hängen viele Phänomene in unserem Körper – darunter auch Bruxismus – mit Stress zusammen. Lernen wir, die autonomen Reaktionen unseres Körpers zu verstehen und einzuordnen, eröffnen sich schlussendlich neue Wege der Beeinflussung und damit der Regulierung. Mit anderen Worten, wir können unser Wissen gezielt nutzen, um beispielsweise Zustände der Entspannung oder Aktivierung herbeizuführen und uns so einerseits von der Erregung in die Ruhe, andererseits von der Lethargie in die Aktivität zu begeben oder gezielt einen Zustand der wachen Balance kultivieren.

Bei diesen beiden Funktionen sind Sympathikus und Parasympathikus jeweils maßgeblich beteiligt. Diese Kenhub Grafik gibt einen ersten Einblick, welche Bereiche jeweils enerviert sind und wie unser autonomes Nervensystem somit den gesamten Körper durchzieht. Grundsätzlich bietet sich damit eine Vielzahl von Möglichkeiten und „Türen“, um doch einen gewissen Einfluss auf das autonome Nervensystem zu nehmen.  

Wie hängt diese Beeinflussung mit Sympathikus und Parasympathikus zusammen? Landläufig erfolgt bei der Betrachtung von Sympathikus und Parasympathikus folgende Gleichsetzung:

Sympathikus = Stress und Erregung
Parasympathikus = Ruhe und Entspannung

Sehr pauschal betrachtet ist diese Unterscheidung in der Tat korrekt. So werden durch den Sympathikus „vorwiegend Körperfunktionen innerviert, die den Körper in erhöhte Leistungsbereitschaft versetzen und den Abbau von Energiereserven zur Folge haben. Diese Wirkung bezeichnet man auch als ergotrop, wobei sich der Sympathikus überwiegend antagonistisch zur Wirkung des Parasympathikus verhält“ (Stangl 2022).

Der Parasympathikus als Antagonist oder Gegenspieler wird dagegen vor allem mit Beruhigung, Erholung und Regeneration in Verbindung gebracht. Man bezeichnet ihn deshalb mitunter als Ruhe- oder Erholungsnerv.

Da wir in unserer heutigen Lebenswelt fast alle unter (zu viel) Stress stehen, ist der Sympathikus in den letzten Jahren und Jahrzehnten zunehmend als negativ oder gar schädlich betrachtet worden, wohingegen parasympathische Aktivität sich den Ruf als „gut“ und „gesund“ erwarb. Ist diese Bewertung gerechtfertigt? Tatsächlich ist es so, dass ein Übermaß an sympathischer Aktivierung auf Dauer schädlich ist. Chronifizierter, also dauerhafter Stress über lange Zeiträume hinweg, kann sogar zu einer Reihe möglicher Folgeerkrankungen führen. Von daher lässt sich nachweisbar sagen, dass zu viel sympathische Aktivität dem Körper schadet. Allerdings wäre umgekehrt ein ausschließlich parasympathisches Leben ebenfalls nicht möglich. Wären wir ständig nur vollkommen tiefenentspannt, könnten wir überspitzt gesagt unseren Alltag nicht mehr bewältigen. Selbst vergleichsweise einfache Anforderungen wie dem Bus hinterher zu rennen oder eine schwere Tasche mehrere Stockwerke nach oben zu tragen, würden uns bereits überfordern. Ebenso hätten wir nicht die ausreichende Energie, um emotionale Krisen und zwischenmenschliche Konflikte zu meistern. Doch nicht nur der Umgang mit Problemen und Schwierigkeiten würde sich kompliziert gestalten: selbst angenehme Erregungszustände wie etwa der Nervenkitzel bei einem spannenden Film oder die prickelnde Aufregung beim Sex würden wegfallen.

Sympathikus und Parasympathikus synchronisieren: „sowohl als auch“ statt „entweder oder“

Von daher liegt der Schlüssel zu einem ausgeglichenen Leben nicht in einem dauer-beruhigten oder dauer-erregten, sondern in einem flexiblen Nervensystem. Idealerweise ist dieses in der Lage, schnell auf einzelne Situationen reagieren und sich daran anpassen zu können. Bezogen auf Stressreaktionen bedeutet das etwa, dass unser Sympathikus zwar aktiviert wird, diese Aktivierung sich, sobald die Situation vorbei ist, aber schnell wieder abbaut und der Parasympathikus erneut übernimmt. Dieses Zusammenspiel ist auf anatomischer Ebene bereits angelegt. Nicht ohne Grund werden Sympathikus und Parasympathikus als Gegenspieler bezeichnet.

Der Begriff Gegenspieler oder „Antagonist“ kann hier allerdings schnell in die Irre führen. So impliziert er zweifellos eine gewisse Feindschaft und ein Gegeneinander-Arbeiten. Genauer betrachtet ist bestenfalls jedoch genau das Gegenteil der Fall, nämlich dann, wenn Sympathikus und Parasympathikus zu Teamplayern werden und angepasst an die jeweilige Situation zusammenarbeiten. Exakt dieses fein austarierte Zusammenspiel beider Subsysteme bringt uns letztendlich in die Balance, sowohl auf organischer (vgl. MSD Manuals) als auch auf mentaler Ebene. Davon profitieren wir im Übrigen nicht nur bei Bruxismus: Ein Gleichgewicht zwischen Ruhe und Aktivität, Entspannung und Dynamik tut uns grundsätzlich allen gut, lässt uns Stress besser bewältigen, stärkt unser Immunsystem und fördert unsere Gesamtgesundheit.

Ratgeber Dauernervosität überwinden von Dr. Sabine Nunius und Christian Koch

Grund genug also, alle uns zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen! Wie das genau funktioniert, was der Vagus-Nerv dazu beiträgt und wie Du dieses Wissen gezielt und aktiv in Deinen Alltag integrieren kannst? Das erfährst Du im gemeinsamen humboldt-Ratgeber Dauernervosität überwinden von Christian und mir!

Dr. Sabine Nunius zu Gast im ichStark-Podcast

Deine Anmeldung konnte nicht gespeichert werden. Bitte versuche es erneut. Sollte der Fehler nicht lösbar sein, wende dich per Mail an Christian.
Eintragung erfolgreich. Bitte klicke auf den Link in der Bestätigungs-E-Mail. Falls du diese nicht in wenigen Minuten in deinem Posteingang findest, überprüfe bitte den Spamordner.

Quellenangaben in der Reihenfolge ihrer Nennung

  • Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen dem autonomen Nervensystem und primärem Schlafbruxismus: Atte A. Tapiainen, Nina Zaproudina, Jukka A. Lipponen, Mika P. Tarvainen, Anu Vierola, Saara M. Rissanen, Pasi A. Karjalainen & Matti Närhi (2022) Autonomic responses to tooth clenching and handgrip test, Acta Odontologica Scandinavica, 80:5, 389-395, DOI: 10.1080/00016357.2022.2027514
  • Sympathetic nerve (SN) and parasympathetic nerve (PSN) activities occurred significantly in 93.3% of cases (p < 0.01), with similar predictable patterns during SB. Furthermore, SB length and SN activity in seven of the subjects (four subjects, p < 0.05; three subjects p < 0.01), and PSN and SB muscle activities (% maximum voluntary contraction) in five subjects (four subjects, p < 0.05; one subject, p < 0.01) were significantly correlated.“: Nukazawa S, Yoshimi H, Sato S. Autonomic nervous activities associated with bruxism events during sleep. Cranio. 2018 Mar;36(2):106-112. doi: 10.1080/08869634.2017.1287232. Epub 2017 Feb 10. PMID: 28183231.
  • Alóe F. Sleep bruxism neurobiology. Sleep Sci.2009;2(1):40-48.

  • Stangl, W. (2022, 8. Juli). Sympathikus . Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.
    https://lexikon.stangl.eu/4804/sympathikus.
  • https://www.msdmanuals.com/home/brain,-spinal-cord,-and-nerve-disorders/biology-of-the-nervous-system/spinal-cord

Angebote von Christian Koch

Schreibe einen Kommentar